Der Sozialistenbart

Dieser Beitrag von Dr. Sebastian Scharte erschien 2012 und war Teil des Projekts "Erinnerungsorte der Sozialdemokratie".

Seitenansicht Wilhelm Liebknecht vor schwarzem Hintergrund. Mit Mantel und langem Bart.

Bild: von AdsD Mit Vollbart gegen Bismarcks Schnauzer: Wilhelm Liebknecht, der Mitgründer der SPD (um 1890).

Markus Meckel mit langem Vollbart und Willy Brandt geben sich vor einem SPD-Plakat die Hand.

Bild: von AdsD/Darchinger Markus Meckel und Willy Brandt beim Außerordentlichen Parteitag der SPD in Berlin 1989.

„Politik ohne Bart“: Wer erinnert sich nicht an den Bundestagswahlkampf 1994, an einen glattrasierten Kanzler Kohl und seinen SPD-Herausforderer Rudolf Scharping? Der eben trug Bart – und damit auch, ob ihm bewusst oder nicht, seinen Teil bei zu ‚linker‘ Traditionspflege.

Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Bart politisch: mit den Napoleonischen Kriegen 1813-15 erst „altdeutsch“-national, mit den Revolutionen von 1830 und vor allem 1848 dann demokratisch. „Demagogenbärte“, also „Demokratenbärte“ als unmissverständliche Zeichen politisch-sozialer Opposition waren zumeist buschige, wallende Vollbärte, wie wir sie von Robert Blum, Friedrich Hecker, Gustav Struve und weiteren Revolutionären kennen, natürlich auch von Marx und Engels. Andere Bartmoden waren weniger eindeutig: ob die nun „Koteletten“ genannten Backenbärte, ob Kinn- oder Schnurrbärte, für die beispielsweise als preußischer oder hessischer Beamter, als österreichischer, französischer oder englischer Soldat ganz unterschiedliche Vorschriften existierten.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts „wurde dann der Demokratenbart höfisch gestutzt zum Knebelbart Napoleons III., zum ‚Kaiserbart‘ mit ausrasiertem Kinn Franz Josephs und Wilhelms von Preußen und wurde so vielfach Mode“, bilanziert der Historiker Thomas Nipperdey. Weitere bekannte „Herrscherbärte“ waren später die gezwirbelten Schnurrbärte Wilhelms II., der nicht ohne die „Es ist erreicht“-Barttinktur des kaiserlichen Hof-Friseurs auskam, sowie des zweiten Weimarer Reichspräsidenten und ‚Ersatzkaisers‘ Hindenburg. Der gezähmte, gestutzte, gezwirbelte Bart etlicher nach Popularität strebender Konservativer auf der einen, der ‚rechten‘ Seite fiel ebenso auf wie der Vollbart als eigentlicher „Sozialistenbart“ auf der anderen, der ‚linken‘ Seite. Doch auch dieser veränderte sich. So war er schon ab den 1860/70er Jahren nicht mehr klar definiert, was sich bereits an den Gründervätern der deutschen Sozialdemokratie aufzeigen lässt: Während Ferdinand Lassalle den modischeren Schnäuzer bevorzugte, blieb Wilhelm Liebknecht dem Vollbart treu, welcher bei August Bebel im Laufe der Jahre gekürzt und gebändigt wurde. Schließlich machte auch die politische Linke in Kaiserreich und Weimarer Republik Bartmoden mit oder verweigerte diese – bis sich zur Mitte des 20. Jahrhunderts der amerikanische Trockenrasierer auch in Deutschland endgültig etablierte, mit der aufwändigeren Nassrasur konkurrierte und generell allen Bärten (un-)empfindlich zusetzte.

Umstritten bleibt der Bart als „Erinnerungsort“ allemal, zu denken ist nur an prominente Träger wie Lenin und Stalin, Che Guevara und Fidel Castro. Erinnern sollte sich die deutsche Sozialdemokratie jedenfalls daran, dass „Politik ohne Bart“ lange Zeit sehr erfolgreich war – siehe die Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.


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