Willy Brandt

Dieser Beitrag von Prof. Dr. Daniela Münkel erschien 2012 und war Teil des Projekts "Erinnerungsorte der Sozialdemokratie".

Willy Brandt ist heute eine Ikone für die deutsche Sozialdemokratie und darüber hinaus. Nicht nur der „Kniefall von Warschau“, sondern auch zahlreiche andere Bilder von ihm gehören zum historischen Bildrepertoire der Bundesrepublik und sind fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Willy Brandt ist zum nationalen Symbol für die langfristige Wegbereitung der deutsch-deutschen Vereinigung, für Aussöhnung und Völkerverständigung geworden. Das war nicht immer so. In den 1960er und beginnenden 1970er Jahren galt Willy Brandt bei vielen seiner Gegner in Politik und Bevölkerung als „Vaterlandsverräter“, der Deutschland gleich mehrfach verraten habe: durch seine Emigration im Jahr 1933, durch seinen angeblichen Kampf gegen deutsche Soldaten in norwegischer Uniform und durch seine neue Deutschland- und Ostpolitik.

Über die nationale erinnerungspolitische Bedeutung des ehemaligen Bundeskanzlers hinaus nimmt Brandt eine überragende Rolle als sinnstiftende Identifikationsfigur innerhalb der deutschen Sozialdemokratie ein. Parteioffizielle Erinnerungen paaren sich hier mit individuellen. Willy Brandt ist Übervater, Identifikationsfigur, Denkmal und Ikone der SPD. Äußeres Zeichen dafür ist die übergroße Statue Brandts in der SPD-Parteizentrale in Berlin – so hält der ehemalige, langjährige Parteivorsitzende symbolisch noch immer seine Hand schützend über die Partei, steht mahnend zur Seite, gibt Hoffnung für die Zukunft und erinnert an eine große Vergangenheit. Willy Brandt steht für die ,besseren‘, die Hochzeiten der Sozialdemokratie in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Mit seinem Namen verbinden sich Wahlerfolge, Massenmobilisierung, politische Visionen, Erneuerung, Demokratisierung und Modernisierung. Kaum eine Rede eines SPD-Politikers kommt ohne einen Bezug zu Willy Brandt oder ein Zitat von ihm aus. Hinzu treten die vielen individuellen Erinnerungen und Deutungsmuster der Parteimitglieder. Aus der älteren Generation von Sozialdemokraten hat fast jeder seine Willy-Brandt-Geschichte: die erste Begegnung, die Bedeutung Brandts für den Eintritt in die SPD und den weiteren (politischen) Lebensweg sind dabei ständig wiederkehrende Erzähl- und Erinnerungsfiguren.

Ebenso wie auf nationaler wandelte sich auch auf parteipolitischer Ebene die Bedeutung Willy Brandts im jeweiligen zeithistorischen Kontext. War er für die einen seit Beginn der 1960er Jahre Hoffnungsträger, Identifikations- und Leitfigur, und sollte als junger, dynamischer „deutscher Kennedy“ die SPD und die Bundesrepublik in eine neue Zeit führen, so standen andere der Erneuerung der Partei skeptisch gegenüber und konnten sich nur langsam mit der neuen „Lichtgestalt“ anfreunden. Solche unterschiedlichen Erfahrungshorizonte prägten auch divergierende Erinnerungen. Diese wurden allerdings im Laufe der Zeit überlagert und eingeebnet. Die Gründe dafür sind sowohl in den realen historischen Entwicklungen – so scheint zum Beispiel die deutsche Vereinigung auch als Vollendung der Brandtschen Deutschland- und Ostpolitik – als auch in erinnerungs- und geschichtspolitischen Konjunkturen zu suchen. Hinzu kommt, dass Willy Brandt noch zu Lebzeiten versucht hat, ein wirkungsmächtiges Bild von sich als historischer Figur zu implementieren: Nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler gelang es ihm, sein Image als Erneuerer, Modernisierer und Urheber der neuen Deutschland- und Ostpolitik zu festigen und ständig zu aktualisieren. Dabei wurde er jedoch zusehends von der aktuellen politischen Realität abgekoppelt und als über den Dingen stehender Elder Statesman wahrgenommen. Darüber hinaus konnte er durch seine zahlreichen Aktivitäten als SPD-Vorsitzender und Vorsitzender der Sozialistischen Internationale sein Image als Visionär und charismatischer Reformpolitiker immer wieder erneuern. Durch den Mauerfall wurde dann das politische Vermächtnis Willy Brandts schon zu seinen Lebzeiten Wirklichkeit. Der Kreis schloss sich. Nach Brands Tod am 8. Oktober 1992 schritt dessen Stilisierung weiter voran – er erstarrte zum „Denkmal“.


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